„Du kennst Dich mit Indien und Mathe aus.“ begann neulich eine Chatnachricht. Das Krötz-Video und meine Meinung dazu…
Immerhin habe ich auch Physik studiert und in den letzten Jahren ein paar Vorlesungen gehalten und dort ein Gefühl für die „Studierreife“ (wenn das ein Wort ist) der deutschen Abiturienten bekommen.
Oder: Nur wer die richtige Frage stellt, findet auch die richtige Antwort.
Die Quelle
Bevor wie in die Details gehen: Hier ist das zur Debatte stehende Video:
Erste Eindrücke
- Richtig ist: Der gezeigte JEE-Test hat ungefähr das Niveau meiner Mathe- und Physik-Vordiplomsprüfungen Anfang der 90’er Jahre.
- Auch die Schulen in Indien sind korrekt beschrieben: 40 Stunden in der Woche, hochgradig fokussierte Lehrpläne, aber dafür gigantische Klassenstärken. Der Lehrermangel in Indien ist krass, vor allem an staatlichen Schulen – und die Schulen begegnen dem nicht wie hier, indem sie Stunden ausfallen lassen, sondern die Klassen werden vergrößert, bis die Lehrkräfte ausreichen.
- Richtig sind die absoluten Zahlen. Indien hat inzwischen über 1,4 Milliarden Einwohner – gemessen daran sind die 1,5 Millionen Prüflinge in Indien nicht so wahnsinnig viel, bei ähnlichen Verhältnissen hätte Deutschland etwa 83.000 Studienanfänger in MINT-Fächern, es ist aber tatsächlich ungefähr eine Million (also auf die Einwohnerzahl bezogen etwa 12x mehr).
- Richtig ist, dass in Indien jedes Jahr etwa 400.000 Studienanfänger ihre akademische Laufbahn beginnen auf einem Niveau beginnen, das bei uns etwa dem Vordiplom in Bayern in den 90’er Jahren entspricht.
Anekdotisch: Ich kenne einen bayerischen Physiker sehr gut, der in den späten 80’ern sein Abitur gemacht hat. Leistungskurs Mathe/Physik, jeweils 15 Punkte in der Abiturprüfung, jeweils nach der halben Prüfungszeit fertig, allerdings in den Gesellschaftswissenschaften zu faul und deshalb knapp an der Zulassung zur Aufnahmeprüfung fürs Maximilianeum vorbeigeschrappt.
Der komplette LK Mathematik hat an der Uni nur vier Vorlesungs-Stunden beansprucht und war nach einer Woche „durch“, und in genau diesem Tempo ging es weiter. Der Herr hat zwei Semester gebraucht, um sich an das Lehr-Niveau an der Uni anzupassen. Trotzdem waren im 5. Semester die Grundlagen für die Vorlesung „Theoretische Physik III: Quantenmechanik“ so unzureichend, dass die Physik-Vorlesung zur Hälfte aus Mathe-„Grundlagen“ bestand.
Das war in den 90’ern, und die 90’er erscheinen mir im Rückblick wie das goldene Zeitalter unseres Bildungssystems.
… aber …
Oder: „Die falsche Frage?“
… aber … der Vergleich zwischen Abitur und JEE hinkt in mehrerlei Hinsicht.
- Das Abitur ist die „Allgemeine Hochschulreife“. Deutschland verfolgt nach wie vor das Humboldt’sche Bildungsideal: Jeder sollte allgemein gebildet sein.
Das indische Schulsystem unterstützt eine sehr frühe, sehr weitgehende Spezialisierung: Wer sich mit ca. 14 Jahren für „Science“ (wörtlich „Naturwissenschaften“) entscheidet, hat ab da in der Schule weder Fremdsprachen noch Gesellschaftswissenschaften wie Erdkunde oder Geschichte. - Das Abitur ist eine Abschlussprüfung, das JEE eine Eignungsprüfung. Der Fokus ist also ein anderer: Jeder Gymnasiast schließt mit dem Abitur seine Schulausbildung ab. Ob er danach etwas MINT-artiges macht oder ein Soziales Jahr oder eine Ausbildung zum Schlosser ist egal.
Ein JEE-Kandidat will ein MINT-Fach studieren, nichts anderes – und zwar eigentlich an einer der Elite-Universitäten. Die JEE sind die Eignungsprüfungen für die indischen Elite-Universitäten ähnlich der Concours-Prüfungen in Frankreich.
Bildung in Indien – Bildung in Deutschland
Was man dazu über Indien wissen muss: Der Lehrermangel ist krass. Ein Freund hat mir mal erzählt, Indien müsste eine Generation lang alle Universitäts-Absolventen in die Lehrer-Ausbildung „re-investieren“, damit sie in der darauf folgenden Generation genügend Lehrkräfte ausbilden könnten.
(Deshalb sahen manche Inder Corona auch als Chance für ihr Bildungssystem: Innerhalb weniger Wochen hatten alle Lehrer Indiens ihre Kurse auf YouTube, Khan Academy und ähnliche Plattformen hochgeladen. Smartphones, um den Unterricht „zu konsumieren“ hat sowieso jeder – und lieber haben 90% der Schüler guten Unterricht am SmartPhone als 100% gar keinen.
Während Schüler vorher mit dem Lehrer klarkommen mussten, den sie zufällig hatten, hatten sie quasi über Nacht Zugang zu den besten Lehrern des Landes. Ob man sich einen Lehrer mit 80 Mitschülern teilt oder „nur“ ein Video sieht, spielt dann schon keine große Rolle mehr.)
Die Logik in Indien ist die: Plätze an den top-Universitäten sind knapp, der Staat muss deshalb sicherstellen, dass nur die aussichtsreichsten Kandidaten einen dieser Plätze „blockieren“.
Was bei uns oft passiert: Dass Studenten „irgendetwas“ ein, zwei Semester studieren und dann doch wechseln oder irgendwas anfangen und dann unterwegs ausfallen, weil sie die Prüfungsvoraussetzungen nicht schaffen… das kann sich Indien nicht leisten. Wer auf eine Universität will, insbesondere auf eine der Elite-Universitäten, der muss vorher zweifelsfrei beweisen, dass er die fachliche Eignung und die nötige Entschlossenheit hat. Dass er zu den am besten geeigneten Kandidaten seines Jahrgangs gehört.
Die Philosophie und die Sachzwänge des deutschen Systems unterscheiden sich davon extrem.
Deutschland verfolgt in dieser Hinsicht zwei Ideale: Einerseits das Humboldt’sche Bildungsideal, und andererseits die Idee von „gleichen Bildungschancen für alle“: Dass die Bildung und Ausbildung möglichst unabhängig sein sollte vom sozialen Status (Religion, Geschlecht, und so weiter). Jeder soll Zugang zur universitären Bildung haben.
Auch das ist – de facto – in Indien völlig anders: Die meisten Familien in Indien können es sich nicht leisten, dass ihre Kinder „kein Geld nach Hause bringen“, geschweige denn Kosten für die Schule, das Unterrichtsmaterial und so weiter zu tragen. Schulpflicht bis zum Alter von 14 Jahren ist aus Sicht vieler Familien in dieser Hinsicht „schlimm genug“.
Also: Wer zum JEE antritt, gehört auf jeden Fall zur Oberschicht.
Umgekehrt: Gerade weil die Situation für die Familien in jeder Hinsicht schwierig ist, ist Bildung in Indien eines der wichtigsten Statussymbole. Teilweise arbeiten Familien über Generationen hinweg daran, durch Bildung vom Tagelöhner zum Akademiker zu kommen.
Eine Anekdote: Ich hatte in Indien mal einen Fahrer, der der ganze Stolz seiner Familie war: Er stammte aus einer Familie aus einer der unteren Kasten, solange die Familie sich zurückerinnern kann, waren sie Tagelöhner. Seine Eltern und alle seine Geschwister hatten sich angestrengt, damit er eine Ausbildung machen konnte (gemeint war der Führerschein) – und in seiner Familie arbeiten alle darauf hin, dass sein Ältester an „irgendeine“ Universität kann, in der Hoffnung dass sein Enkel (!) an eine Elite-Uni kann.
Übrigens… wenn in einer Familie nur ein Kind auf die High School oder sogar auf die Uni kann, dann sind das normalerweise die Jungs.
Auch „Elite-Universitäten“ wie die Indian Institutes for Technology gibt es bei uns nicht: Deutschland strebt danach, einen einheitlichen Ausbildungsstand an allen Universitäten zu erreichen. Unsere Idee von „Elite-Universitäten“ bezieht sich hauptsächlich auf die Forschung und Promotionsstudiengänge. Das färbt natürlich auf die Lehre in den Bachelor- und Masterstudiengängen ab, aber die Idee „gleiche Bildungschancen“ ist auch an dieser Stelle sichtbar. Das Ziel der indischen Elite-Schulen ist dagegen ganz klar, eine Elite von Weltrang aufzubauen.
Diesen extremen Leistungsgedanken haben wir so in Deutschland auch nicht mehr. Also: Das Ziel ist das gleiche: Alle Eltern, egal ob in Indien oder in Deutschland, wollen, dass ihre Kinder glücklich werden.
Nur… während in Indien die Idee von Fleiß und guter Bildung quer durch alle Schichten als unabdingbare Stufe auf dem Weg zum Glück anerkannt ist, verbreitet sich in Deutschland eher der Fokus auf freies lernen: Die Kinder sollen nicht unter Druck gesetzt werden, damit der Druck dem Glück nicht im Weg steht.
Versuch eines Fazit …
Also: Im Video wurden Äpfel mit Birnen verglichen. Alles gut. Die Inder werden schon noch sehen, dass ihr auf Druck basierendes System nicht funktioniert und nur traumatisierte Burn-out-Kandidaten produziert.
Das Ideal der gleichen Bildungschancen und der Humbolt’schen Allgemeinbildung sind viel wichtiger. Im Gegenteil: Ich bin mir sicher, dass es oben bei dem Satz „Dass Bildung und Ausbildung möglichst unabhängig sein sollte vom sozialen Status“ einige in den Fingern gekribbelt hat, denn die Statistiken zeigen nach wie vor, dass der soziale Status der Ursprungsfamilie in Deutschland immer noch den Bildungsstand beeinflusst.
Viel wichtiger ist, dass auch im Mathematik-Unterricht die Menschenrechtsbildung nicht zu kurz kommt.
Wirklich?
Wie oben gesagt: In Indien beginnen jedes Jahr 1,500,000 Anfänger ein MINT-Studium auf einem Niveau, von dem deutsche Universitäten nur träumen können.
Der Arbeitsmarkt für MINT-Absolventen wird zunehmend global. In der Informatik ist das wohl am weitesten fortgeschritten, einige Ingenieurwissenschaften (z.B. die Bauingenieure) sind deutlich stärker ans Herkunftsland gebunden.
Ob es uns gefällt oder nicht: Diese 1,500,000 MINT-Absolventen werden mit unseren Kindern konkurrieren. Und übrigens kommen auf ähnlichem Niveau jedes Jahr noch einmal ähnliche Kandidaten-Zahlen aus China. Durch den ständigen Wettbewerb wird das Niveau in diesen Ländern immer höher.
Ich finde das deutsche System grundsätzlich gut. Ich mag das Humboldt’sche Bildungsideal, und ich mag auch die Idee von gleichen Bildungschancen für alle. Auch die Ideen zum „gehirngerechten Lernen“ (u.a. Vera Birkenbihl) sind genial.
Und: Manche Dinge sind schwer und bleiben schwer, egal wie gut sie erklärt werden. Mathematik gehört dazu. Es ist gut, dass die Mathematik-Didaktik in den letzten Jahren und Jahrzehnten besser geworden ist. Aber wie viel besser sie geworden ist, werden wir nicht herauskriegen, denn gleichzeitig haben wir den Anspruch drastisch gesenkt. Auch das ist ein Teil des Videos, der Vergleich Deutschland 1971 mit Deutschland heute.
Und ich glaube, dass der globale Wettbewerb unaufhaltsam ist. Ob man das so völlig ungefiltert wie in den Bildungssystemen in Indien, China, Frankreich oder früher den USA und UK an die Schüler und Studenten weiterreichen muss… das geht, denke ich, zu weit. Aber eine Gesellschaft grundsätzlich auf Leistungsbereitschaft aufzubauen, ist, denke ich, kein Fehler. Die Menschen sind verschieden, und deshalb ist es aussichtslos, auf Biegen und Brechen zu versuchen, allen alle Chancen zu geben – denn jeder wird nur „seine“ Chancen nutzen, und der Rest der teuer erschaffenen Chancen wird verschwendet. Es wird nicht jeder einen Bachelor machen – braucht also jeder die Chance zum Bachelor?
Am Ende ist weder das indische System noch das deutsche der Stein der Weisen. Das eine ist zu hart, das andere ist zu weich. Aber wir sollten unser ohnehin schon weiches System nicht noch weiter aufweichen durch „Menschenrechtsbildung“ als Teil des Mathematikunterrichts. Stattdessen sollten wir zusehen, dass wir den Mathematik-Teil im Mathematikunterricht wieder auf Vordermann bringen, in die Mitte zwischen dem Status Quo und den indischen Fragen.
Ein weiser Mann hat einmal gesagt: Das ist wie die Sehne eines Bogens: Wenn man sie zu sehr vorspannt, kann man den Pfeil nicht mehr zurückziehen und nicht damit schießen. Wenn man die Sehne zu schlaff lässt, hat der Pfeil keine Kraft.